Gedanken zur Corona-Krise aus dem Schulz von Thun Institut

Solidarität ist derzeit „mit Abstand“ das Beste!

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Teilnehmerinnen unserer Weiterbildungen, Interessenten, Freunde unseres Institutes!

Corona vollführt weltweit einen Schlag ins Kontor, von dem wir uns alle nur langsam erholen werden – besonders auch wir aus der Weiterbildung, die wir Ziele der menschlichen Entwicklung verfolgen, die am besten im Nahkontakt und im leibhaftigen Miteinander erreicht werden können. Plötzlich alles abgesagt, auf unbestimmte Zeit! Auch uns im Institut treibt die Frage um: Können wir aus der Not eine Tugend machen? Jeder für sich in seiner individuellen Betroffenheit und wir in unserem Kollektiv-Schicksal? Wie eine Sintflut ist das über uns gekommen – und wie bauen wir nun eine Arche?

Die Kunst, aus der Not eine Tugend zu machen, beginnt mit der Anerkennung der Not. Misstrauen Sie allen eifrigen Ratgebern, die auf positives Denken setzen, bevor die Not in ihrer Schockschwere seelisch anerkannt und gefühlt werden durfte! Noch ist es eindeutig zu früh, auf ein posttraumatisches Wachstum zu setzen. Die Not will erkannt und anerkannt sein – und sie ist kollektiv und hoch individuell zugleich. Gib der Angst Raum in deinem Herzen, erkläre dich nicht zum kläglichen Hasenfuß, wenn du sie verspürst! Und bleibe damit nicht im stillen Kämmerlein, auch wenn dieses paradoxerweise zur empfohlenen Sicherheitszone geworden ist! Die Möglichkeit, sich digital zu vernetzen, erweist sich jetzt als ein Segen. Wir tauschen uns in unserem Institut zunächst in einem internen Forum mit unseren Dozentinnen und Dozenten aus, einem Forum, in dem sich auch die „inneren Menschen“ vernetzen. Dieses Netz kann ein Fallnetz werden: Wenn jemand akut abstürzt, fällt er nicht tiefer als in Gottes Hand – oder wenn er daran momentan oder prinzipiell zweifelt, dann kann dieses kollegiale Fallnetz den Sturz zumindest abfedern. Über Nacht kam mir der Satz, den ich zur Überschrift gewählt habe, der ein kleines Wortspiel enthält und zum Motto für diese Zeit werden kann:

„Solidarität ist derzeit mit Abstand das Beste!“

Klar, mit Abstand – social distancing wird zu einem Gebot der Stunde. Aber eben auch Solidarität.

Solidarität hat in einem wettbewerbsorientierten System zuweilen schlechte Karten. Viele Stammspieler unseres Inneren Teams sind darauf aus, im Wettbewerb erfolgreich zu bestehen, um des eigenen  Glückes Schmied zu sein. Sie sind dafür nicht zu tadeln. Aber in der Tiefe unserer Seele wartet auch jemand, manchmal wie bestellt und nicht abgeholt, der sich nach einem solidarischen Miteinander sehnt, im Erweisen von Hilfe ebenso wie im Annehmen. Wenn dieser Teil in uns jetzt abgeholt wird, kann dies der allererste (und gewiss nicht der unbedeutendste) Schritt sein, aus der Not eine Tugend zu machen. Vielerorts regt sich so etwas.

Auch andere Werte und Lebensqualitäten können aus der Not geboren zur Tugend werden – Werte, die zu einem erfüllten Leben beitragen. Nicht hoch im Kurs steht normalerweise die Kunst der Entsagung. Aber ich glaube nicht, dass ein Menschenleben dann besonders erfüllt ist, wenn möglichst alle Wünsche erfüllt werden. Wenn ein Verzicht Sinn macht oder uns vom Schicksal aufgegeben ist, kann er zur gereiften Menschwerdung mehr beitragen als ein wohliges Vergnügen – auch wenn wir das Letztere nicht verachten wollen, wenn wir das hin und wieder genießen dürfen. Wahrscheinlich können wir die Zeit während und nach Corona nicht ohne Entsagung und Verzicht überstehen. In diesem Falle wäre Corona eine gute Vorprüfung für den Verzicht, den wir zur Rettung aus der Klimakrise ohnehin werden leisten müssen. Das wird wehtun, wenn ich zum Beispiel das Auto vor der Tür nicht mehr habe und mich mühsam mit ungewohnten Wegen der Mobilität auseinandersetzen muss. Oder wenn die jährliche Flugreise in die Sonne ausfallen muss. Aber wenn ich damit zum Mitglied einer Menschheit werde, die es unserem überstrapazierten Planeten gestattet, unsere Nachfahren willkommen zu heißen, dann kann ein solcher Verzichtsbeitrag ein Gefühl von Sinnerfüllung hervorrufen, welches tiefer nachwirkt als das entgangene Vergnügen oder der entgangene Komfort.

Und eine letzte Qualität möchte ich hervorheben, die in dieser Zeit der schockschweren Not neu entdeckt und gelebt wird: die dankbare Würdigung derer, die in vorderster Front stehen und dafür sorgen, dass unser Zusammenleben gedeihlich bleibt und nicht im hysterischen Chaos versinkt. Wann hat die Frau (oder der Mann) an der Kasse des Supermarktes jemals eine derartige Würdigung und Dankbarkeit erfahren? Und die Ärztinnen und Pfleger, Busfahrerrinnen und Altenbetreuer, Polizistinnen und Paketboten? Dass mit ihrem täglichen Einsatz so viel steht und fällt, können wir in Notzeiten deutlicher erkennen. Aber diese Erkenntnis ist es wert, für alle Zeiten danach im kollektiven Gedächtnis zu bleiben, mit allen Konsequenzen, was Entlohnung und menschenwürdige Arbeitsplatzgestaltung angeht. Auch ehrliche Politiker und medizinforschende Wissenschaftlerinnen verdienen in diesen Zeiten alle Achtung, und ganz gewiss darüber hinaus.

Soviel zu der Kunst, aus der Not eine Tugend zu machen - was unser Gemeinwesen betrifft. Solidarität, Entsagung und dankbare Würdigung sind aus meiner Sicht, neben allen heilsamen Eingriffen in unser Leben, die drei menschlichen Qualitäten, die wir jetzt entwickeln können, entwickeln sollten.

Auf einem anderen Blatt steht, wie die höchst unterschiedlich Betroffenen aus ihrer jeweiligen individuellen Notlage etwas Gutes machen können. Wenn Sie mit unserer Stimmigkeitslehre vertraut sind, dann wissen Sie, dass wir uns im Umgang mit schwierigen Situationen an dem Satz von Victor Frankl orientieren: „Jede Situation enthält einen Ruf an uns, auf den wir zu horchen, dem wir zu gehorchen haben.“ Und, so füge ich hinzu, jede schwierige Situation können und sollten wir unter drei Aspekten betrachten: als Anforderung und Zumutung, als Gelegenheit und als Herausforderung. Dieser „Dreierblick“ hilft, eine tragfähige und mir wesensgemäße Haltung zu gewinnen. Die Haltung gibt mir Halt und Orientierung. Coaching ist nicht zuletzt die Erarbeitung einer solchen Haltung, die für mich stimmig ist. Die Anforderung habe ich zu erkennen und zu erfüllen, die damit verbundene Zumutung auszuhalten. Die Gelegenheit kann ich ergreifen, sobald ich die Chance entdeckt habe, die in der schwierigen Situation enthalten ist, enthalten sein könnte. Und die Herausforderung kann ich, nachdem ich sie als solche definiert habe, annehmen - mit der Chance auf persönliches Wachstum.

Wir im Schulz von Thun Institut sind derzeit intensiv dabei, nach „Gelegenheiten“ zu suchen. Der Kontakt über Telefon und Internet kann für unser Kernanliegen – der professionellen und menschlichen Entwicklung - nur eine Ergänzung zur direkten persönlichen Begegnung sein, aber immerhin: Wo es sinnvoll ist, machen wir uns dafür fit und bieten wir Alternativen zur persönlichen Begegnung vor Ort an. Sie werden demnächst wieder dazu von uns hören.

Kommen Sie gut durch diese Zeit, gesundheitlich, wirtschaftlich, seelisch!

Herzlich, im Namen auch der Institutsleitung Kathrin Zach, Marcus Poenisch, Johannes Ruppel

Ihr Friedemann Schulz von Thun

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