Friedemann Schulz von Thun: Seine langjährige Vorgeschichte und aktuelle Gedanken zum Thema "Gendern"
Gendern !?
Mit dem Gendern ist es so eine Sache, sie ist noch nicht ausgestanden. Es scheiden sich die Geister daran. Bis auf weiteres muss jeder und jede eine eigene Haltung dazu finden und eine dazu passende Handhabung.
Muss? Ja, man kann nicht nicht kommunizieren, und ebenso wenig kann man als kommunizierender Mensch der sprachlichen Handhabung ausweichen - so oder so!
Ich habe zu der Frage eine längere Vorgeschichte. Anfang der achtziger Jahre hielt ich als Professor meine Vorlesung, und feministisch inspirierte Studentinnen kritisierten meinen maskulinen Sprachstil, wie er auch in meinem Buch „Miteinander reden - Störungen und Klärungen“ (1981) vorherrschend war. Nanu? Mache ich etwas falsch? Ich war davon gar nicht überzeugt und hatte eine schlaue Idee: Ich brachte eine Handglocke mit in die Vorlesung und lud die Kritikerinnen dazu ein, jedes Mal, wenn meine Sprache den maskulinen Akzent aufwies, mit dem Glöcklein zu klingeln – sodass ich selbst und wir alle erst einmal ein Bewusstsein darüber gewinnen könnten. Die Studentinnen nahmen die Einladung an – und es klingelte andauernd! Wenn ich von „Urhebern“ sprach - es klingelte. Sogar wenn ich von „Kunden“ sprach - es klingelte! - Ich hatte gemischte Gefühle: Sollte ich jetzt jedes Wort auf die feministische Goldwaage legen? Wenn ich von Kunden sprach, würde doch niemand auf die Idee kommen, dass nur Männer gemeint sein könnten? War es nicht klar, wie es gemeint war? Und ist Kommunikation nicht dann gut, wenn das Gemeinte auch entsprechend ankommt? Andererseits hatte ich eine Sympathie für das Anliegen: Frauen sollten selbstverständlich in unserer aller Köpfe gleichwertig und gleichberechtigt repräsentiert sein, mit allen gesellschaftlichen Implikationen. Das ist kein Zugeständnis an feministische Kreise, das ist mir selbst wichtig! Und ja, die Sprache ist bewusstseinsbildend! Aber sollte ich meine Unbekümmertheit in der sprachlichen Formulierung auf dem Altar dieses hochwertigen Anliegens opfern? Sollte ich gar mein Buch von 1981 umschreiben, damit es „korrekt“ würde? Und vor allem: Würde unsere Sprache nicht holperig und stolperig werden, umständlicher und sogar schwerer verständlich?
In meinem neuen Buch, das im Herbst 2021 erscheint, habe ich versucht, meine Haltung und meine Handhabung so auszudrücken:
„Ich bemühe mich, moderat und flexibel, um eine genderbewusste Sprache. Die Gleichstellung und Gleichwertigkeit aller Menschen jenseits ihres Geschlechtes ist mir eine Selbstverständlichkeit - und ein Herzensanliegen, soweit das noch nicht überall erfüllt ist. Die dafür notwendige Bewusstseinsbildung wird auch durch die tägliche Sprache gefördert, von daher ist es ganz richtig, eine gendergerechte Sprache anzustreben. Gleichzeitig liegt mir eine verständliche und nicht umständliche Sprache am Herzen, daher nehme ich mir im Dienste einer guten Lesbarkeit die Freiheit, es je nach Kontext so oder so zu machen, ohne zwanghafte Disziplin und ohne „dem*r Leser*in“ Holper-Stolper-Konstruktionen zuzumuten.“
Damit ist natürlich noch nicht alles gelöst, schon gar nicht die Anerkennung gleichwertiger Identität von Menschen, die sich dem binären weiblich-männlich-Schema nicht unterordnen können und wollen. Für mich selber habe ich die innere Faustregel: „genderbewusst ja - genderimperativ nein!“
Und ganz gewiss muss eine stimmige Handhabung auch kontextabhängig sein: Halten wir einen lebendigen Vortrag oder machen wir ein offizielles Anschreiben an Kund*innen und Teilnehmer*innen? Bei einem freiem Vortrag bin ich muttersprachlich frühgeprägt, und manches generische Maskulinum behauptet sein Daseinsrecht, solange ich unbekümmert spreche. Das lasse ich mir gerne durchgehen und hoffe auf Toleranz bei meinen Hörerinnen und Hörern.
Den Ehrgeiz, es „richtig“ zu machen (und einander daran zu messen), halte ich für wenig aussichtsreich. Im Umgang miteinander empfehle ich Bewusstheit, Wohlwollen und Toleranz!
Friedemann Schulz von Thun, März 2021