Kommunikation im Dilemma - hilft das Werte- und Entwicklungsquadrat?

Friedemann Schulz von Thun: Gedanken zum Ukraine-Krieg und der Kommunikation im Dilemma

Der vernichtende Angriff auf die Ukraine hat hierzulande eine pazifistische Erschütterung ausgelöst und eine „Zeitenwende“ eingeleitet. Wie sollen wir (NATO, EU, Deutschland) darauf reagieren? Im Unterschied zu manchen Problemen, für die es zuweilen eine ideale Lösung gibt, befinden wir uns in einem Dilemma - das ist im öffentlichen Bewusstsein weithin erkannt. Das Wesen eines Dilemmas besteht darin, dass zwei unabdingbare Prinzipien gegeneinander stehen, hier:

  1. Der Ukraine unbedingt beistehen, mit aller Kraft und Entschiedenheit - mit Sanktionen, die den Angreifer schwächen, mit Geld, mit Flüchtlingshilfe, mit Worten und nicht zuletzt mit Waffen!
  2. Den labilen Frieden in Europa und der Welt, so schnell wie möglich wieder herstellen, um Himmels Willen keine Eskalation riskieren, womöglich einen Dritten Weltkrieg, womöglich mit atomarer Totalvernichtung!

Zum Wesen eines Dilemmas gehört es, dass die beiden wertegeleiteten Imperative sich nicht harmonisch miteinander vertragen. Wer den einen Imperativ verabsolutiert und den Gegenimperativ ausblendet, läuft sofort Gefahr, mit reiner Gesinnung in ein Desaster zu kippen – und umgekehrt! Die Außenministerin Annalena Baerbock hat von einer Wahl „zwischen Pest und Cholera“ gesprochen. Die Pest: im solidarischen Übereifer mit dem angegriffenen Opfer eine existenzielle Selbstgefährdung bis hin zu einem atomaren Weltkrieg riskieren und „in Kauf nehmen“ - alles vor dem Hintergrund eines Aggressors, der Anlass zu dem Verdacht gibt, unberechenbar geworden zu sein und den Finger in demonstrativer Andeutung auf den roten Knopf legt. - Die Cholera: das angegriffene Opfer dem Schicksal des Schwächeren überlassen, den Völkerrechtsbruch mit pazifistischem Appeasement hinnehmen und nicht nur wegen unterlassener Hilfeleistung moralisch schuldig zu werden, sondern auch den Frieden auf eigenem Gebiet zu gefährden, sobald sich mörderische Gewalt als Erfolgsmodell erweist.

So weit, so verzwickt und brenzlig. Unser Wertequadrat (WQ) macht zunächst einmal diese Dilemmahaftigkeit sichtbar. Oben stehen die beiden moralischen Imperative neben- und gegeneinander, jeweils darunter die Gefahr des Abrutschens in ein Desasters durch einseitige Verabsolutierung:

Es ist offensichtlich, dass unser Kanzler und unsere Regierung dilemmabewusst abwägen, entscheiden und handeln, meist auch dilemmabewusst kommunizieren. In dem Bemühen, sowohl Pest als auch Cholera zu vermeiden, suchen sie nach einer balancierenden Integration beider Imperative - durchaus im Bewusstsein, dadurch beiden etwas schuldig zu bleiben. Diese integrale Politik lautet derzeit: Wir helfen mit Geld und Flüchtlingshilfe, mit Sanktionen, auch wenn sie uns selbst wehtun, mit moralischer Unterstützung demonstrativer Solidarität, auch mit Kriegsgerät und schwerer Ausrüstung – jedoch treten wir nicht selbst in den Krieg ein, auch nicht durch Schließung des Luftraumes, wir unterlassen Sanktionen, die unsere eigene Stabilität mehr gefährden als die des Gegners (kein Gasembargo, jedenfalls nicht kurzfristig), wir liefern nur so viele Waffen, wie wir unter Wahrung eigener Verteidigungskapazität entbehren können, und wir erfüllen jede Forderung der Ukraine nur in Absprache und im Einklang mit den eigenen Verbündeten.

So weit, so gut! Oder so schlecht, wenn man bedenkt, dass man bei dilemmabewussten Entscheidungen immer doppelt schuldig bleibt, nämlich auf beiden Seiten. Dies liefert den Anlass für manche gute Debatte und zuweilen für manche ungute Polarisierung. Es kann nämlich nicht ausbleiben, dass jemand der einen wertbetonten Seite mehr Gewicht gibt als der anderen. Und dann neigen die Kontrahenten dazu, ihre eigene Bevorzugung im Wertehimmel (oben im Wertequadrat) zu verorten, hingegen die des Meinungsgegners im Pest- und Cholerakeller der moralischen Minderwertigkeit und/oder des Irreseins. So entstehen die typischen Vorwurfsrichtungen im Wertequadrat von oben links nach unten rechts bzw. von oben rechts nach unten links.

Wer im Zweifel dem entschlossenen Beistand den Vorrang gibt, attackiert die Anwälte des Selbst- und Weltenschutzes etwa mit den Worten: „Ihr seid naiv-pazifistisch aus der Zeit gefallen! Feige Appeasement-Politik hat noch nie einem Aggressor Einhalt geboten! Ihr seid um euren Wohlstand besorgt, Hauptsache, ihr habt es schön warm in eurem Wohnzimmer, nicht wahr? Und den Ukrainern, die täglich sterben müssen oder im Bombenhagel ums Überleben kämpfen, wollt ihr tüchtig die Daumen drücken - oder aber ihnen nahelegen zu kapitulieren.“ Moralkeule A

Und wer dem Selbst- und Weltenschutz den Vorrang gibt, wirft den Anwälten des „Beistands ohne Wenn und Aber“ eine Harakiri-Mentalität vor: „Ihr gefallt euch in einem neuen heroischen Militarismus, mit immer mehr Waffen eskaliert ihr den Krieg, nehmt viele weitere Tote in Kauf, statt diplomatisch einzulenken. Schon vergessen: Frieden schaffen ohne Waffen!? Und was sagt ihr euren Kindern, wenn in einem Weltkrieg alles in Schutt und Asche zerfällt? „Dieses Risiko war so nicht vorhersehbar - wir haben es für extrem unwahrscheinlich gehalten, dass Putin ein Selbstmörder ist!“ ? Moralkeule B

Nicht selten müssen die politisch Verantwortlichen gleich beide Keulen ertragen, aus zwei Richtungen vorgetragen. Der Kanzler erhält offene Briefe und heftige Vorhaltungen von beiden Seiten. Und dies nicht, obwohl sie eine integrale Politik anstreben, einen Balanceakt auf des Messers Schneide, sondern gerade weil sie es tun. Sie sind dann gut beraten, dilemmabewusst zu kommunizieren. Müsse er sich nicht schämen, so wurde der Bundeskanzler im Interview gefragt, wenn er die russische Kriegskasse täglich mit vielen hundert Millionen auffülle, nur damit wir es in Deutschland schön warm haben und die deutsche Wirtschaft weiterhin floriere – während die Ukrainer, Frauen, Kinder, Soldaten sterben und vom ganzen Land nichts Heiles mehr übrig bleibe? Er könnte dann antworten: „Ja, indem wir weiter Gas aus Russland kaufen, laden wir eine Schuld auf uns, da wir den Aggressor Tag für Tag weiter finanzieren. Es ist schwer und wird mit jedem Tag schwerer, mit dieser Schuld zu leben. Würden wir hingegen abrupt damit aufhören, müssten wir mit einer anderen Schuld leben: dass wir die Verhältnisse hierzulande instabil werden lassen und große wirtschaftliche und gesellschaftliche Verwerfungen riskieren, ohne den Aggressor damit wirklich stoppen zu können. Als deutscher Bundeskanzler, der geschworen hat, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden, wiegt für mich diese Schuld schwerer, und daher darf und will ich es nicht verantworten, jedenfalls noch nicht – wir streben in diese Richtung. Mir ist bewusst, dass diese Entscheidung schmerzlich ist und vehement kritisiert werden kann - aber ich halte sie für richtig, jedenfalls wenn wir gleichzeitig unseren Beistand auf anderen, unmittelbar wirksamen Ebenen entschlossen fortsetzen und noch weiter erhöhen- und das tun wir.“

Kanzler Scholz wird gegenwärtig nicht nur wegen kryptischer und ausweichender Kommunikation kritisiert, sondern auch als unentschlossener Zögerer und Zauderer vorgeführt – von der Opposition und von einem Teil der Medien: Warum er diese und jene Entscheidung nicht schon vor Wochen getroffen habe, diesen oder jenen Satz nicht schon vorgestern ausgesprochen habe? Hier tritt uns ein weiteres Wertequadrat vor Augen, das nicht die Entscheidungen selbst betrifft, sondern den Modus der Entscheidungsbildung:

Auch hier rivalisieren zwei wichtige Qualitäten miteinander, ringen zwei ungleiche „Schwestertugenden“ um einen guten Ausgleich. Rasche und rechtzeitige Entschiedenheit - ja unbedingt, sonst kann man viel wertvolle Zeit verlieren und riskiert weiteres Blutvergießen! Aber unbedingt auch Besonnenheit in der Abwägung - es sind schließlich viele Kriterien zu überprüfen, um Möglichkeiten und Wirkungswahrscheinlichkeiten, Chancen und Gefahren einer Maßnahme richtig einzuschätzen; es sind schließlich auch viele Abstimmungen innerhalb der Koalition, innerhalb der EU, der NATO vorzunehmen, um Entschlossenheit und Geschlossenheit sicherzustellen. Wer nur die eine Tugend (oben links) kennt, landet wahrscheinlich in einer vorschnellen Selbstgewißheit und muss womöglich später feststellen, manches nicht bedacht oder falsch eingeschätzt zu haben. Wer nur die andere Tugend (oben rechts) kennt, handelt womöglich zu spät und muss sich, wie der Kanzler, ewiges Zögern und Zaudern vorwerfen lassen. Er weist dies von sich, weist darauf hin, nach sachlicher Klärung und notwendiger Abstimmung jeweils sofort entschieden zu haben. Er könnte auch, mit dem Wertequadrat im Hinterkopf,  antworten: „Ihr Ideal scheint die schnelle Entschiedenheit und Entschlossenheit zu sein. Dies ist auch mein Ideal, aber ich habe noch gleichzeitig ein anderes, nämlich jede Entscheidung von großer Tragweite gründlich zu durchdenken und in Abwägung aller Möglichkeiten, Chancen und Gefahren, Kosten und Risiken schlussendlich nach besten Wissen und Gewissen zu treffen. Eine fortwährende Nachdenklichkeit auf dem Balanceseil scheint mir unbedingt geboten, um nicht dem erstbesten Reflex zu folgen, der uns verlockt, in falscher Selbstgewißheit das vermeintlich einzig Richtige zu tun. Wenn Sie das ‚Zögern und Zaudern‘ nennen, ist das eine etwas lieblose Charakterisierung, und es treffen aus meiner Sicht der Dinge nicht alle Umstände zusammen, die diese Beschreibung als zutreffend erscheinen lassen.“

Mit dem „Wertequadrat im Hinterkopf“ können wir politische Entscheidungen und Debatten klarer einschätzen. Es erleichtert auch eine Empathie mit den politisch Verantwortlichen, für die ich in solchen Krisenzeiten dringend plädieren möchte – die meisten von uns wollen nicht in ihrer Haut stecken. Und es kann den streitbaren Dialog sachlich klarer und menschlich versöhnlicher werden lassen. Statt einer gegenseitigen Verächtlichkeit können sich Meinungsgegner mit unterschiedlichen Standpunkten als Ergänzungspartner entdecken, getreu dem dialogischen Credo, dass die Wahrheit zu zweit beginnt. Dies eröffnet die Aussicht auf integrale Lösungen jenseits von Pest und Cholera.

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